Das Oberlandesgericht Schleswig hat im Dezember 2018 (abgedruckt in FamRZ 2019 S. 453 ff) über folgenden Fall entschieden: Nach dem ersten Halbjahr der sechsten Klasse verweigerte eine 14-jährige Schülerin jeglichen Schulbesuch. In einem Schreiben an das Ministerium begründete sie ihre Schulverweigerung mit dem Argument, die Schule verhindere ein selbstbestimmtes Lernen. Kaum habe sie sich für etwas interessiert, klingele es und sie müsse sich einem anderen Lernstoff zuwenden. Der Mutter, bei der die Tochter nach der Scheidung der Eltern wohnt, wird ein Zwangsgeld angedroht. Daraufhin erklärt die Tochter in einem weiteren Schreiben, dass diese Drohung sie auch nicht bewegen werde, zur Schule zu gehen. Gegen die Mutter wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000 €, ersatzweise Zwangshaft, festgesetzt.
Im anschließenden Familiengerichtsverfahren wurde eine Kindeswohlgefährdung durch das Schuleschwänzen gesehen. Das Gericht entzog der Mutter das Recht für sämtliche schulischen Angelegenheiten. Es erteilte dem Vater die Auflage, das Mädchen bei einer Schule anzumelden und der Mutter, den Schulbesuch und die Teilnahme am Unterricht sicherzustellen.
Dabei unterstellte das Gericht, dass trotz heftig vorgetragener Ablehnung das Kind umgestimmt werden könne, „sofern die Mutter entsprechende Bemühungen entfalte“. Die Mutter müsse nur ihre Haltung ändern. Ihr Einwand, sie sehe keine Möglichkeiten, auf die Tochter einzuwirken, wurde als „nicht nachvollziehbar“ erklärt. Folgendes wurde angedroht:
„Sofern bei der Mutter weiterhin keine hinreichende Bereitschaft bestehen sollte, entsprechend auf A. einzuwirken, müsse dies ggf. mit den Mittel der Zwangshaft nach § 95 FamFG i. V. m. § 888 ZPO durchgesetzt werden, da die Festsetzung eines Zwangsgeldes aufgrund der mitgeteilten Einkommensverhältnisse keine Aussicht auf Erfolg haben dürfte“.
Der Vater meldete die Tochter in einer Schule an, diese verweigerte weiterhin deren Besuch.
Die Mutter legte Beschwerde ein. Die Jugendliche wurde vom Senat angehört. Der Vater wusste nicht, wie er die Tochter zum Schulbesuch bewegen könne. Außerdem lehnte das Mädchen die Übersiedlung zum Vater ab. Auch zum Besuch eines Internats war die Jugendliche nicht bereit.
Die Vertreter des Jugendamtes räumten ein, sie sähen zurzeit keine Möglichkeit, wie ein Schulbesuch durchgesetzt werden könne. Auch der Verfahrensbeistand konnte keinen Vorschlag machen, wie das Mädchen zum Schulbesuch zu bewegen wäre.
Daraufhin hob das Oberlandesgericht sämtliche kindesschutzrechtlichen Maßnahmen des Amtsgerichtes auf, sie seien ungeeignet.
Zwar gefährde der unterbleibende Schulbesuch das Wohl des Kindes. Es sei zweifelhaft, wie das Mädchen sich das notwendige Wissen selbst aneignen könne. Es seien bereits jetzt Defizite im Bereich der Naturwissenschaften vorhanden. Hervorzuheben sei auch
„dass der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule über die Vermittlung von Wissen hinaus auch die Aufgabe betrifft, den Kindern durch einen gemeinsamen Schulbesuch die Gelegenheit zu geben, in das Gemeinschaftsleben in der Gesellschaft hineinzuwachsen“.
Das Gericht betont, dass die seit fast zwei Jahren anhaltende Schulabstinenz von A. ihr geistiges und seelisches Wohl und ihre beruflichen Entwicklungschancen schon jetzt beeinträchtigen.
Trotz dieser Bedenken erklärte das Oberlandesgericht, dass weitere gerichtliche Maßnahmen gegenüber den Eltern aus Gründen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes derzeit nicht angeordnet werden dürfen. Es stehe nicht fest, so das Gericht,
„dass es Maßnahmen gibt, die zur Gefahrenabwehr effektiv geeignet sind und ihrerseits eine andere mindestens genauso erhebliche Gefährdung des Kindeswohls herbeiführen.“
Das Gericht betont, dass der Wille der mittlerweile 14 ½ Jahre alten Jugendlichen zu respektieren ist. Und weiter:
„Ein gegen den ernsthaften Widerstand eines Kindes erzwungenes Verhalten kann durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit unter Umständen mehr Schaden verursachen, als Nutzen bringen.“
Das Gericht stellt fest, dass andere Konfliktlösungsmittel, die mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu vereinbaren sind, nicht zur Verfügung stehen.
Zwischen Mutter und Tochter sei eine gute Bindung, sie dürfe durch eine Unterbringung im Internat oder die Umsiedlung der Tochter zum Vater nicht zerstört werden.
Das Gericht stellt fest:
„Ein Gebot gemäß § 1666 Abs. 3 Nr. 2 BGB, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, kann aus den vorgenannten Gründen nicht angeordnet werden.“
Das Gericht übertrug der Mutter das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten. Der Vater hatte beantragt, dieses Recht beiden Eltern zu entziehen und einem Pfleger zu übertragen. Er selbst wollte das Recht nicht ausüben.
Welche Bedeutung hat diese Entscheidung?
Das Gericht nimmt die Tatsache zur Kenntnis, dass Kinder, die selbstbewusst erzogen wurden, einen Willen entwickeln können, der den Erwachsenen nicht gefällt, der gegen Gesetze verstößt wie im vorliegenden Fall gegen die Schulpflicht und der sogar kindeswohlgefährdend sein kann.
Das Gericht verzichtet mit Fiktionen zu arbeiten. Aus Umgangsrechtsfällen ist bekannt, dass man bei Umgangsverweigerung dem betreuenden Elternteil die Schuld gibt, wenn Kinder den Kontakt mit dem Anderen verweigern. Es wird unterstellt, sie könnten die Kinder in ihrem Willen umstimmen, wenn sie selbst es nur wollten. Die Richter konstruieren eine Kausalität und greifen oft empfindlich in die Rechte der Eltern ein.
Im Fokus steht der Wille des 14 1/2 -jährigen Mädchens. Dieser wird respektiert. Der ernsthafte Widerstand des Kindes soll nicht gebrochen werden, weil dies eine Missachtung der eigenen Persönlichkeit wäre und mehr Schaden als Nutzen verursachen könnte.
Eine solche Entscheidung ist mutig, nimmt sie doch zur Kenntnis, dass Kinder zunehmend einen eigenen Willen haben und die Grenzen, innerhalb derer dieser Wille zu brechen ist, viel genauer als in der Vergangenheit geschehen, auf Schädlichkeit untersucht werden müssen.