Warum sollte man HERKUNFT lesen? Es ist kein juristisches Buch, es ist Literatur, in der es bekanntlich vielstimmiger zugeht als in wissenschaftlichen Abhandlungen.
Zur Bedeutung des Themas in der aktuellen juristischen Beratung:
Es geht um Fragen der – individuellen – Wurzeln bei Kindern, die adoptiert wurden oder solchen, die erst mit 18 Jahren den Namen des Samenspenders erfahren oder aber nie die Frau kennenlernen werden, die sie als Leihmutter am anderen Ende dieser Welt ausgetragen hat. Oder um zwangsverheiratete minderjährige Flüchtlinge, deren Ehe in Deutschland annulliert wird, ihre Kinder als unehelich erklärt und sie von ihrer Herkunftsfamilie als Frau – weil geschieden und entehrt – geächtet und ausgestossen werden.
Zur Bedeutung des Themas in der gesellschaftlichen Diskussion:
HERKUNFT war ein großes Thema als nach 1945 Millionen von Menschen aus den Ostgebieten nach Westen flüchten mussten. Sie waren Habenichtse und Traumatisierte, sie sprachen zwar deutsch aber selten den richtigen Dialekt.
Vor fünf Jahren kamen wieder Hunderttausende von Flüchtlingen, auch sie durch Krieg und Verlust ihrer Heimat traumatisiert. Erschwerend kommt hinzu, sie sehen anders aus, sprechen nicht unsere Sprache, teilen nicht unsere Vorstellungen von Demokratie und Religionsfreiheit oder Gleichberechtigung von Mann und Frau, um nur einige Gründe für Missverständnisse, Misstrauen, sogar Hass, wechselseitige Ablehnung und Ausgrenzung zu nennen.
Warum sollte man HERKUNFT lesen?
Als Vierzehnjähriger flüchtete Stanisic mit seiner Mutter aus Bosnien nach Deutschland, kurz bevor dort der Krieg ausbrach. Immer wieder wurde er nach seiner HERKUNFT gefragt. Vier Jahre später besuchte er mit seiner Großmutter das Heimatdorf seines Urgroßvaters. Auf dem Dorffriedhof ruhen unzählige Tote, alle mit dem Namen Stanisic. Ihm kommt der Gedanke, dass die Stanisic-Linie ausstirbt, sollte er kinderlos bleiben. Bis zu diesem Besuch hatte er sich geweigert über Abstammung oder Geburtsort, Herkunft oder Heimat nachzudenken. Es waren für ihn Unterscheidungsmerkmale, mit denen nur neue Grenzen befestigt und nationale Interessen begründet werden.
„Ich verstehe nicht, dass HERKUNFT Eigenschaften mit sich bringen soll, und verstehe nicht, dass manche bereit sind, in ihrem Namen in Schlachten zu ziehen.“ (S. 275)
Im Dorf stellt ihm ein Verwandter seiner Großmutter die gleiche Frage: Woher kommst Du, Junge? Was soll er sagen? Aus Deutschland? Ist das „Zugehörigkeitskitsch“? Worauf kommt es denn an? Auf die geographische Lage seines Geburtsortes, auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt seiner Geburt oder seiner Flucht? Spielt es eine Rolle, dass sein Herkunftsland Jugoslawien nicht mehr existiert? Ist entscheidend, woher seine Ahnen stammen, sind es deren oder die Gene seiner Eltern, ist es die Sprache oder der Dialekt? Und hat es eine Bedeutung, dass ihm der Anzug seines Großvaters wie angegossen passt?
Oder ist HERKUNFT nur eine „Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist?“.
Seine Herkunft ist verbunden mit Krieg und Flucht und mit dem Trauma, dass seine Familie mit dem Untergang von Jugoslawien auseinandergebrochen ist und sich nie mehr zusammensetzen konnte. Die Familie ist über die Welt zerstreut, in Bosnien beerdigt.
Stanisic entfaltet eine große literarische Wirkkraft. Mit seiner Fantasie setzt er sich seine eigene Identität zusammen, stellt sie sogleich wieder in Frage, lässt Un-Eindeutigkeiten und Zufälle zu. Mit großer Feinfühligkeit begegnet er den realen Personen seiner Familie, erfasst und beschreibt soziale und politische Zusammenhänge. Das macht neugierig auf Menschen, Orte und Gefüge, die andere aber auch einen selbst geprägt haben.
Nach der Lektüre dieses Buches kann man den Mit-Menschen, die Fragen nach ihrer Identität und HERKUNFT haben, bessere Antworten geben.
Stanisic schafft Literatur, die einem den Weg zeigt, das wahrzunehmen, was für den anderen HERKUNFT bedeutet – übrigens auch für sich selbst.