Schulpflicht versus Grundrechte?

„Fridays for Future“ – Kinder und Jugendliche demonstrieren für mehr Klimaschutz. Das hat eine hitzige Debatte über das Verhältnis der Schulpflicht zu einzelnen Grundrechten entfacht. Mancherorts wird schon rechtlicher Rat zu möglichen oder bereits angedrohten Sanktionen wegen „Verletzung der Schulpflicht“ eingeholt.

Stellen Sie sich vor: Eltern wird ein Ordnungsgeld auferlegt. Familiengerichte entziehen ihnen das Schulbestimmungsrecht und übertragen es auf das Jugendamt. Vollstreckungsbeamte bringen Kinder zwangsweise zur Schule. Oder noch schlimmer: Kinder und Jugendliche werden wegen ihrer Teilnahme an den Freitagsdemonstrationen zur Rettung des Klimas von der Schule verwiesen.

Sind das unrealistische Szenarien? Oder nur Drohung, um das Ende der freitäglichen Demonstrationen von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen zu erreichen? Oder doch nahe Zukunft, wenn der „Welpenschutz“ für protestierende Kinder aufgebraucht ist und Schuldirektionen bzw. Schulbehörden durchgreifen?

Darum geht es: Artikel 7 des Grundgesetzes (GG) stellt besteht allgemeine Schulpflicht. Gut so, denn alle Kinder brauchen Bildung. Das Grundrecht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder (Artikel 6 GG) ist also insoweit eingeschränkt. Sie können bei der Schule aber Unterrichtsbefreiung für ihre Kinder beantragen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Wird dieser bejaht, dürfen keine Sanktionen angeordnet werden.

Was ist ein wichtiger Grund? Alle Kinder haben Grundrechte wie jeder Mensch. Beispielsweise dürfen sie ihre Ansichten auch auf Demonstrationen kundtun, das sehen die Artikel 5 GG (Recht auf freie Meinungsäußerung) und Artikel 8 GG (Recht auf Versammlungsfreiheit) ausdrücklich vor. Diese wie weitere Grundrechte sind auch persönlich einklagbar.

Dann gibt es noch Artikel 20 a GG: Er verpflichtet den Staat – und nur ihn! –, die Lebensgrundlagen für die zukünftigen Generationen zu erhalten. Dafür muss er Gesetze erlassen und geeignete Maßnahmen ergreifen. Deutschland hat mit der Unterzeichnung des Pariser Klimaschutzabkommens im Jahr 2015 einen Schritt in die richtige Richtung getan. Da sich die Bundesregierung jedoch nicht an die Vereinbarung hält, demonstrieren SchülerInnen für die Einhaltung der vereinbarten Klimaziele. Im Grunde ist ihr Demon-strieren das Einzige, was sie machen können – darüber hinaus haben Jugendlichen kaum Möglichkeiten, am demokratischen Willensbildungsprozess teilzunehmen. Den Bundestag wählen können sie erst mit 18 Jahren und Parteimitglied werden erst mit 16 Jahren. Außerdem sind bestimmte staatliche Maßnahmen auf Basis von Artikel 20 a GG – hier: z.B. der Klimaschutz – von niemandem persönlich einklagbar.

Die Zeit drängt: Glaubt man der Wissenschaft, so lassen sich die Umweltschäden nicht mehr rückgängig machen, wenn die Politik weiterhin die Hände in den Schoß legt. Sogar das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Abs. 2 GG) gerät damit in Gefahr. Es ist das dringende Anliegen der Schulkinder, darauf aufmerksam zu machen. Deswegen protestieren sie öffentlichkeitswirksam während der Unterrichtszeit – und dies fortlaufend.

Wo bleibt der Bildungsauftrag der Schule?

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im Mai 2006 festgestellt: Die allgemeine Schulpflicht dient als geeignetes und erforderliches Instrument dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrages. Dieser Auftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit. Er richtet sich auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben. In allen Schulgesetzen der Bundesländer wird gefordert, Kindern die Werte des Grundgesetzes zu vermitteln, damit sie zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beitragen und Verantwortung für die Umwelt übernehmen können. Aber genau das machen die jungen Menschen auf ihren „Fridays for Future“-Demonstrationen doch! Durch ihren gezielten Regelverstoß gegen die Schulpflicht erhalten sie für ihre Botschaften die Aufmerksamkeit, die angesichts der drohenden Gefahren für Umwelt und Klima notwendig ist. Bei der Abwägung der Frage, ob ein wichtiger Grund zur Unterrichtsbefreiung vorliegt, ist das zu berücksichtigen.

Eltern und Kinder können offensiv, gemeinsam und mit guten Argumenten dafür eintreten, dass schulische Bildung und Grundrechte kein Widerspruch sind. Sollten einzelne Eltern oder Kinder zur Abschreckung „bestraft“ werden, muss die Antwort zumindest ein weiterer Protest sein – dann gemeinsam mit den „Parents for Future“!

(erschienen in: Kinderschutz aktuell – KSA, Ausgabe 3.2019, Seite 23, Der Kinderschutzbund/Hrsg.)

Zu diesem Artikel schrieb eine Leserin:

Leider bin ich nicht einverstanden mit den Aussagen in dem o.g. Artikel, der die Ansicht vertritt,
» […] durch ihren gezielten Regelverstoß gegen die Schulpflicht erhalten sie (die Schulkinder) für ihre Botschaften die Aufmerksamkeit, die angesichts der drohenden Gefahren …. notwendig ist. […] «
Kurz gesagt: Regelverstoß ist ein richtiges Verhalten, Aufmerksamkeit zu bekommen.
Was lernen die Kinder daraus? Können Kinder einschätzen, was ein wichtiger Grund ist, Regeln zu brechen und was nicht? Sollten nicht wir Erwachsene (auch die Eltern) Vorbild sein und mit unserem Verhalten die Bedrohung deutlich machen und abzuwenden versuchen? Und das sehe ich leider nicht.
MfG, K

Hierauf meine Antwort:

Sehr geehrte Frau K.,

die KSA-Redaktion hat mich als Autorin des von Ihnen angesprochenen Artikels gebeten, Ihren Brief vom 25.8.2019 zu beantworten. Bitte sehen Sie mir nach, dass ich erst jetzt dazu die Zeit gefunden habe.

Sie hinterfragen in Ihrem Schreiben grundsätzlich, ob Kinder die Abwägung ihrer Schulpflicht zu ihren Grundrechten überhaupt bewältigen können. Aus meiner Sicht bewältigen sie das sehr gut und in wirklich beeindruckender Weise.

Ich muss etwas ausholen. Zunächst möchte ich die Näherin Rosa Parks aus Montgomery und die Schülerin Greta Thunberg aus Stockholm erwähnen. Was haben sie gemeinsam? Beide haben eine beachtliche Bürgerrechtsbewegung ausgelöst, die eine in Amerika, die andere weltweit.

Es war das Jahr 1955, als sich die Näherin Rosa Parks, müde von der Arbeit, auf einen Platz im vorderen Teil des Busses setzte, der ausschließlich Weißen vorbehalten war. Als sie ihn nicht räumte, wurde sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, denn es war Schwarzen verboten, im Bus neben Weißen zu sitzen. Sie durften mit ihnen noch nicht einmal gemeinsam an der Bushaltestelle Schlange stehen. Die Schwarzen boykottierten das Busunternehmen und gingen zu Fuß, ein ganzes Jahr lang. Das zeigte Wirkung.

Im Dezember 1956 hob ein amerikanisches Bundesgericht das Rassentrennungsgesetz auf. Das war der Anfang der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die sich, geführt von Martin Luther King, in der Folgezeit erfolgreich für die Gleichberechtigung der weißen und schwarzen Bevölkerung einsetzte.

Nun werden Sie sagen, Rosa Parks hat eine inhumane Regel gebrochen, das ist die Schulpflicht nicht. Da stimme ich Ihnen zu.

Welche Bedeutung hat die Einhaltung der Schulpflicht? Auf jeden Fall eine sehr hohe. Das Grundgesetz regelt in Artikel 7, dass der Staat einen allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrag hat. Um diesen wahrzunehmen darf er eine allgemeine Schulpflicht einführen und eine Befreiung vom Unterricht nur auf besondere Ausnahmefälle beschränken.

Schulpflicht richtet sich in erster Linie an die Eltern, die ihre Kinder nicht vom Besuch des Unterrichts beurlauben dürfen, zum Beispiel um sie für sich arbeiten zu lassen, sie vor weltlichen oder religiösen Einflüssen zu schützen oder um Mädchen zu Hause auf ihre Pflichten einer Ehefrau und Mutter vorzubereiten.

Insoweit garantiert die Schulpflicht in erster Linie Kindern ein Recht, das sie gegen ihre Eltern durchsetzen können. Aber auch der Staat muss für eine umfassende Bildung aller Kinder und Jugendlichen sorgen und die notwendigen Bildungseinrichtungen zur Verfügung stellen. Erfüllt der Staat diese Pflicht, wenn, wie die HAZ am 4. 10. berichtete, 100.000 Unterrichtsstunden pro Woche in Niedersachsen fehlen?

Schulpflicht gilt nicht ausnahmslos, es gibt die Möglichkeit, sich von ihr befreien zu lassen. Befreiung ist nach den Schulgesetzen aller Bundesländer auf entsprechenden Antrag der Eltern möglich, allerdings nur „in besonders begründeten Ausnahmefällen“. Und um diese geht es bei den Fridays for Future – Demonstrationen.

Wir könnten fragen: Liegt eine solche Ausnahme vor, wenn Schülerinnen und Schüler für mehr Klimaschutz auf die Straße gehen und sich hierbei auf ihre Grundrechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit berufen? Noch keine Schule hat diesbezüglich einen Antrag auf Unterrichtsbefreiung abgewiesen, kein Gericht hat bislang darüber entschieden, ob eine Teilnahme an den Fridays for Future – Demonstrationen ein Fernbleiben vom Unterricht erlaubt. Zumindest ist mir nichts bekannt.

Es gibt nur einen internationalen Präzedenzfall dazu: In New York City akzeptierten alle staatlichen Schulen den Klimastreik am 20.9. als Entschuldigung, sofern auch die Eltern zustimmten.

Erwähnenswert ist auch ein Urteil des Hamburger Verwaltungsgerichts vom 4.4.2012, in dem es um die Teilnahme eines Schülers an einer Demonstration während der Schulzeit ging. Das Gericht entschied, dass bei Prüfung der Frage, ob ein wichtiger Grund für eine Unterrichtsbefreiung vorliegt, stets eine Abwägung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit mit der „nur“ im (Landes-)Schulgesetz normierten Schulpflicht vorgenommen werden müsse. Das Gericht bejahte das Recht des Schülers auf Teilnahme an der Demonstration.

Schülerinnen und Schüler können verlangen, dass ihre Teilnahme an den Demonstrationen nicht „unbesehen“ wegen Regelverstoßes sanktioniert wird, sie haben ein Recht auf Güterabwägung.

Dass bislang keine Schule den „Regelverstoß“ der Schülerinnen und Schüler geahndet hat, hängt sicherlich damit zusammen, dass wir Erwachsene wissen: Diese „Kinder“ gehen aus Angst und ernsthafter Sorge um die Umwelt und ihre Zukunft auf die Straße; sie prangern zu Recht lautstark die Regierung an, gegen das Pariser Abkommen verstoßen zu haben; sie sind nicht „Schuleschwänzer“, die einfach nur keine Lust haben zu lernen. Nein, die „Kinder“ berufen sich auf ihre (Grund)Rechte und erinnern den Staat daran, in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, so wie es in Artikel 20 a Grundgesetz dem Staat vorgeschrieben ist.

Diese demonstrierenden „Kinder“ haben – leider im Gegensatz zu uns Erwachsenen, wie Sie richtig schreiben – sehr wohl erkannt, dass ein wichtiger Grund vorliegt, sich außerhalb der Schulräume in der Öffentlichkeit für den Erhalt ihres und unseres Planeten Gehör zu verschaffen.

Wir Erwachsene sollten Vorbild sein, schreiben Sie. Ja, aber wir waren es nicht. Denn die dicken Autos, der hemmungslose Konsum, die Verschwendung von Ressourcen auf den verschiedenen Ebenen haben wir „Eltern“ und nicht unsere Kinder zu verantworten.

Allerdings müssen wir nicht „mit unserem Verhalten die Bedrohung deutlich machen“, wie Sie sagen. Denn die Bedrohung ist bereits überdeutlich – bisher offenbar nur den „Kindern“. Genau deswegen gehen sie ja auf die Straße.

Klugerweise sanktionieren wir Erwachsene dieses Verhalten der „Kinder“ nicht. Andernfalls müssten Politikerinnen und Politiker, KultusministerInnen und Schulbehörden fürchten, dass Gerichte die Sanktionen aufheben und den Schülerinnen und Schülern das Recht geben, für ihre und die Zukunft ihrer Kinder zu kämpfen. Das wäre für alle „Klimasünder“ und „Sanktionierer“ äußerst blamabel.

Erwähnenswert ist auch, wie der Protest dieser Jugend abläuft: keine Gewalt wie z.B. beim G20-Gipfel in Hamburg oder der Straßenprotest von Rechtsradikalen, der nicht selten zu schweren Ausschreitungen wie jüngst in Chemnitz führte; keine Eskalation wie zwischen den Ökoaktivisten und der Polizei im Hambacher Forst.

Nein, diese Jugendlichen versammeln sich freundlich und friedlich. Sie setzen sich mit Meinungsgegnern konstruktiv und informiert auseinander und versuchen, säumige Politikerinnen und Politiker zu überzeugen und für die eigene Sache gewinnen. Diese Jugendlichen erobern die Straße für die Zivilität zurück, schrieb Ursula März in DIE ZEIT (Nr. 40).

Die einzige Regel, die sie überschreiten, ist freitags nicht zum Unterricht zu gehen, sondern zu demonstrieren. Das sind ihre Mittel, die Bedrohung abzuwenden. Und wenn wir ehrlich sind, haben sie schon unglaublich viel damit erreicht. Das freut mich ungemein und ganz im Stillen schäme ich mich auch.

Mit freundlichem Gruß

Fabricius-Brand
Rechtsanwältin und Dipl.-Psych.

Margarete Fabricius-Brand

Margarete Fabricius-Brand

Als Fachanwältin für Familienrecht mit langjähriger Praxiserfahrung und Diplom-Psychologin verfüge ich über Spezialkenntnisse, die mich befähigen, Ihre familienrechtlichen Probleme zu lösen.