Kinder vor Gericht

So lautete der Titel eines Buches von Rainer Balloff, das dieser im Jahr 1992 veröffentlicht hat. Schon damals musste ein Kind im familiengerichtlichen Verfahren angehört werden, wenn es um Fragen der Personen– oder Vermögenssorge ging. Nur aus schwerwiegenden Gründen durfte von einer Anhörung abgesehen werden. Eltern waren damals nicht selten gegen die Anhörung ihres Kindes. Man dürfe Kinder nicht vor Gericht zerren, das versetze sie in Panik und schüre Loyalitätskonflikte, so ihre Hauptargumente.

Balloff sah das anders. Eltern sollten ihr Kind ermuntern, offen über alles zu sprechen. Dürften sie ihre Meinung sagen, müssten sie auch keine Angst haben, sich treulos gegenüber einem Elternteil zu verhalten.

Er setzte sich dafür ein, dass Kinder im Streit ihrer Eltern von einem neutralen Dritten angehört und ernst genommen werden sollten. Man müsse ihnen die Möglichkeit geben, über die eigenen Wünsche, Ängste, Anschauungen und Präferenzen zu reden.

Allen Verfahrensbeteiligten müsse bewusst gemacht werden, „dass ein Kind nicht zum Objekt elterlichen, anwaltlichen oder richterlichen Handelns werden dürfe“. Vielmehr müsse „das Kind als eigenständige Persönlichkeit und damit als Subjekt angesehen und geachtet werden“ (Seite 91).

Das war eine sehr moderne Position, sie respektierte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aus Jahr 1968. In dieser Entscheidung wurde Kindern erstmals ein Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit zugestanden. Die Realisierung ließ lange auf sich warten.

Erst im Jahr 1998 (01.07.1998) trat das Kindschaftsreformgesetz in Kraft. Im Zuge dieser Reform bekamen die Kinder eine eigenständige Vertretung vor Gericht. Ihnen wurde ein Verfahrenspfleger, umgangssprachlich Anwalt des Kindes genannt (§ 50 FGG), an die Seite gestellt.

Seit der Kindschaftsreform sind 25 Jahre vergangen. In dieser Zeit haben sich die gesellschaftlichen Vorstellungen über die Rechte der Kinder geändert. Es wuchs auch die Zahl der Minderjährigen, die von der Scheidung ihrer Eltern betroffen waren. Im Jahre 2021 waren es etwa 121.800 Minderjährige. Das gab Anlass, Überlegungen für eine kindgerechte Justiz anzustellen.

Der sogenannte Nationale Rat hat einen „Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das familiengerichtliche Verfahren“ entwickelt. Dieser Leitfaden ist auf der Internetseite des Nationalen Rats unter www.nationaler-rat.de abrufbar.

In erster Linie werden Richterinnen und Richter angesprochen, aber auch die weiteren Beteiligten am familiengerichtlichen Verfahren wie Anwältinnen, Verfahrensbeistand und Jugendamtsmitarbeiter. Sämtliche Akteurinnen im Helfersystem sollen an der kindgerechten Gestaltung des Gerichtsverfahrens mitwirken. Es werden Kriterien hierfür aufgestellt wie z.B. das Recht eines jeden Kindes auf rechtliches Gehör. In jedem Stadium des Gerichtsverfahrens soll das Kind unterstützt werden, vorrangig von Verfahrensbeistand und Richter. Der Verfahrensbeistand soll das Kind auf die Anhörung kindgerecht vorbereiten. Angeregt wird eine kindangemessene Gestaltung des Gerichtsverfahrens. Das betrifft sowohl die Art der Gesprächsführung als auch eine altersangemessene Umgebung bei der Anhörung.

Der neue Leitfaden soll allen Beteiligten einen Anstoß geben, ihr professionelles Handeln aus kindlicher Perspektive neu zu überdenken.

Wie bereits erwähnt, sind nicht nur Eltern sondern auch Kinder Träger von Grundrechten. Auch sie haben das Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Das macht die Verfahrenssituation nicht einfacher, schließlich können Rechtspositionen von Vater, Mutter und Kind in Widerspruch geraten.

Die Sensibilisierung in Recht und Gesellschaft für die Rechte der Kinder hat deren Position in familiengerichtlichen Verfahren ohne Zweifel verstärkt. Damit steigt aber auch die Gefahr, dass das Kind in die Verantwortung genommen wird. Hierauf wies schon Prof. Uwe Tewes („Psychologie im Familienrecht zum Nutzen oder Schaden des Kindes“ – 2016) hin. Trotz Stärkung ihrer Rechte bleiben Kinder unter dem starken Einfluss beider Eltern. Hieran ändert auch die Trennung nichts und bedauerlicherweise ist festzustellen, dass bei streitigen Fällen beide Elternteile darum kämpfen, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Sie versuchen, Einfluss zu nehmen auf die Entscheidung ihrer Kinder. Bewusst oder unbewusst schrecken sie hier vor Manipulationen nicht zurück. Und das bringt Kinder oft in eine schwierige Situation.

Sie geraten zunehmend in Loyalitätskonflikte, in denen sie überfordert sind. Wie oft wollen Kinder keine Entscheidung treffen, weil sie genau wissen, damit einen Elternteil zu verletzen, was sie unbedingt vermeiden möchten. Weder können noch wollen sie Verantwortung dafür übernehmen, was mit ihnen in Zukunft geschehen soll. Mit dieser Haltung erwarten sie, dass die Gerichte entscheiden. Richterinnen und Richter haben dann wiederum das Problem, den „wirklichen Willen“ der Kinder herauszufinden. Manchmal hilft dann nur ein – kostspieliges – psychologisches Gutachten.

In einer solchen Situation ist rechtliches Gehör für die Kinder oft nicht zu unterscheiden von einer Stellungnahme für oder gegen einen Elternteil.

Das größte Dilemma ist, dass Eltern gerade diesen Konflikt nicht verhindern bzw. auflösen können. Aus vielfältigen Gründen sind sie „befangen“, was an dieser Stelle nicht vertieft werden kann.

Als Anwältin vertrete ich in der Regel nur einen Elternteil. Ihre Sichtweise habe ich in das Verfahren einzubringen. Dabei habe ich die Aufgabe, Mutter oder Vater klar zu machen, dass Richter ausschließlich über das Wohl ihres Kindes entscheiden. Es geht nicht nur allein um die Durchsetzung „ihres Rechtes“. Rechte im „Dreieck Vater – Mutter – Kind“ sind gegeneinander abzuwägen. Hier muss die Anwältin nicht selten „dolmetschen“, um Vorstellungen über Sieg und Niederlage zu relativieren. Die Richterin entscheidet allein über das Wohl des Kindes. Und hier sind die Rechte der Kinder vor Gericht in den letzten Jahrzehnten gestärkt worden. Gut so!

Margarete Fabricius-Brand

Margarete Fabricius-Brand

Als Fachanwältin für Familienrecht mit langjähriger Praxiserfahrung und Diplom-Psychologin verfüge ich über Spezialkenntnisse, die mich befähigen, Ihre familienrechtlichen Probleme zu lösen.